Wie Gott mir, so ich dir!

Predigt zum Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr am 10.11.2019 von Vikarin Ronja Gerber

Liebe Gemeinde,

Wir befinden uns auf einem Spielplatz irgendwo in Stein. Mein Sohn Samuel hat den größten Spaß mit seinem gleichaltrigen Freund aus der Krippe. Noch sieht alles friedlich aus. Sie sitzen im Sand und buddeln fröhlich vor sich hin. Doch plötzlich fängt der eine an, dem anderen die Schaufel wegzunehmen. Der andere wiederum haut seinem Gegenüber die Schaufel über den Kopf. Es folgen Geschrei, gegenseitiges Gehaue, Gezanke, Geschubse, es fliegen etliche Sandförmchen und Schaufeln durch die Luft. Von der eben noch friedlichen Stille ist nichts mehr zu merken.

Ja, liebe Gemeinde, ich erzähle Ihnen da sicher nichts neues. Diese und so ähnliche Situationen gehören beim menschlichen Miteinander dazu! Von kleinst auf. Bei den ersten Malen solcher Spielplatzcrashs konnten die beiden Jungs noch nicht sprechen. Aber die Gedankenblasen über ihren Köpfen waren trotzdem zu hören: Pff, wenn der mir was wegnimmt, nehm ich ihm auch was weg. Wenn er mir eine über die Rübe haut, hau ich eben mit noch mit der Schaufel zurück: Wie du mir, so ich dir!

Wie du mir, so ich dir. Wie oft denke oder handle ich nach dieser Devise. Wenn ich angegriffen werde, verbal oder körperlich, schlage ich zurück. Das lass ich mir doch nicht bieten! Immerhin habe ich doch was zu verteidigen, meine Ehre und so. Wenn mein Gegenüber dann auch noch jemand ist, den ich sowieso nicht leiden kann oder von dem ich weiß, dass er mich nicht leiden kann, dann aber erst recht: Wie du mir, so ich dir! Eine völlig menschliche Reaktion. Da schlägt der Predigttext von heute genau in die richtige Kerbe: Wir befinden uns auf einem Berg, an dem sich viele Zuhörer um Jesus versammelt haben. Jesus hat seine Rede bereits begonnen, er hat die volle Aufmerksamkeit von tausend Hörern. Es knistert in der Luft:

27 Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen;
28 segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.
29 Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht.
30 Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück.
31 Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!
32 Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen.
33 Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch.
34 Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen.
35 Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
Vom Umgang mit dem Nächsten
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.

Ja, bin ich Jesus? Bei diesem Forderungskatalog kann ich ja gleich einpacken. Das schaffe ich nicht. Und die Höhe ist ja wohl der Satz: Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Das ist ja völlige Unterwerfung. So viel Demut habe ich dann auch nicht in mir!

Bei näherem Hinschauen entdeckt man aber folgendes bei diesem scheinbar provokanten Satz: Denn es geht hier gar nicht um passive Unterwerfung, sondern um eine Art des Widerstands. Um das zu verstehen, muss man sich die Situation genau vorstellen: geschlagen wurde nur mit der rechten Hand. Und dann auch nur mit dem Handrücken. Mit dem Schlag des rechten Handrückens versinnbildlichte man, wer die Oberhand hatte. So ein Schlag war damals vor allem dazu da, sein Gegenüber zu erniedrigen. So schlugen die Herren ihre Sklaven, die Eltern ihre Kinder.

Und jetzt geschieht das Spannende: Indem der Geschlagene seinem Gegenüber die linke Wange hinhält, macht er es ihm unmöglich, ihn wieder mit dem Handrücken zu schlagen. Indem er die andere Wange hinhält, macht der Geschlagene deutlich: Ich bin mit dir auf Augenhöhe. Ich bin ein Mensch wie du. Und ich lasse mich von dir nicht länger demütigen. Selbst wenn der Untergebene am Ende diesen Kampf verliert und mit Strafen zu rechnen hat, nimmt er doch dem Täter ein Stück von seiner Macht, ihn zu demütigen und zu entmenschlichen.

Es geht für Jesus bei der Feindesliebe nicht um Wehrlosigkeit, sondern um eine Art des Widerstands. Jesus sagt nicht: Lass dir alles bieten und nimm alles widerstandslos hin. Er macht deutlich: Sei mutiger, klüger und fantasievoller als dein Feind. Bringe die verhärteten Fronten und Gefühle mit einem Überraschungseffekt in Bewegung! Jesus fordert auf, neue Wege zu suchen, um mit Gewalt und Bedrohung umzugehen. Wege, die helfen auf dem eigenen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt auszubrechen und gleichzeitig dem schwächeren Partner des Konflikts ermöglichen, aus der Opferrolle herauszukommen.

Ein Beispiel für einen fantasievollen Umgang mit feindlicher Gewalt sehe ich in den Leipziger Montagsdemonstrationen im Oktober 1989. Gestern, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, waren die Bilder wieder in den Medien zu sehen. Die feiernden Menschen auf der Berliner Mauer, Umarmungen und Freudentränen nach Jahrzehnten der Trennung und Feindschaft. Und doch wäre der 9.November 1989 nicht möglich gewesen, wenn nicht einen Monat zuvor 70.000 Menschen in Leipzig den Mut gefunden hätten, auf die Straße zu gehen. An diesem Tag mussten alle Demonstranten damit rechnen, diesem Mut mit dem Leben zu bezahlen. Auf den Dächern waren Scharfschützen postiert. Klinikärzte sollten ihre Abteilungen für Schussverletzungen freihalten. Alle Zeichen deuteten auf Blutvergießen hin.

Einer der entschiedenen Gründe, warum es nicht dazu kam, war die Ansprache von Pfarrer Christian Führer, der den Menschen einschärfte, auf Gewalt zu verzichten. Mit Kerzen in den Händen sollten sie demonstrieren und damit zeigen, dass sie friedlich bleiben wollten. Christan Führer brachte es auf den Punkt: Mit einer Kerze in der Hand kann man keine Steine werfen. Wie kraftvoll und im wahrsten Sinne des Wortes entwaffnend diese Art der Demonstration war, machte ein Kommentar des damaligen Volkskammerpräsidenten Horst Sindermann deutlich, der im Rückblick sagte: „Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete.“

Ja, das sind die Waffen Jesu: Etwas überraschendes, kluges tun, das Frieden und Liebe zum Ziel hat, nicht Gewalt. Es gibt Persönlichkeiten, die diese Art der Feindesliebe umsetzten: Mahatma Ghandi, der vollkommen ohne Gewalt seinen Kampf gegen die britischen Besatzer führte. Nelson Mandela, der nach 27 Jahren Gefängnis der Versuchung widerstand, sich an seinen Peinigern zu rächen, als er selbst an der Macht war. Sie zeigen: Die Feindesliebe, die Jesus fordert, ist realistisch!

Ich bin aber nicht Jesus, Ghandi oder Nelson Mandela. Und doch gibt es auch in meinem Leben immer wieder Situationen, in denen Jesus mich herausfordert: Wie reagiere ich auf den Kollegen im Büro, der keine Gelegenheit auslässt, mich seine Verachtung spüren zu lassen? Wie gehe ich mit Klassenkameraden um, die mich seit Wochen mobben und hänseln? Was ist mit meinem Nachbarn, mit dem ich im Clinch bin wegen Lärmbelästigung?

Das heißt nicht, dass ich nun alle Menschen um mich herum lieben muss mit großer Gefühlsduselei. Nein, es geht um eine Grundentscheidung, die ich treffe: Mich in meinen Nächsten hineinzuversetzen und ihm Gutes tun zu wollen. Damit verbunden ist die Entdeckung: Auch der mir so unsympathische Mensch, hat viel mit mir gemeinsam: Auch er kennt das Gefühl von Einsamkeit, auch er hat das Bedürfnis von Zuwendung, auch er ist verletzlich. Und manchmal ist es sogar dann so, dass ich die Dinge, die mich bei meinem Gegenüber auf die Palme bringen, selbst bei mir wahrnehmen kann.

Wo ich entdecke, dass auch ich selbst immer wieder auf Barmherzigkeit und Vergebung angewiesen bin, führt mich das auch zu mehr Barmherzigkeit gegenüber meinem Nächsten: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Ich bekomme von Gott unendliche Barmherzigkeit geschenkt. Er richtet mich nicht, sondern sieht mich liebevoll an. Also tauschen wir doch das altbekannte Sprichwort: Wie du mir, so ich dir ein in: „Wie Gott mir, so ich dir!“ Weil Gott mit mir barmherzig ist, bin ich auch mit dir barmherzig.

Es reizt einen doch, auszuprobieren, was passiert, wenn ich dem Geschehen eine überraschende Wendung gebe: Wenn ich meine linke Backe hinhalte, wenn ich meinem Gegenüber sage, dass ich ihn verstehe, obwohl ich anderer Meinung bin, wenn ich den ersten Schritt zur Versöhnung mache. Mir kann niemand meine Ehre nehmen, denn die habe ich: Ich habe die Ehre, Gottes grundlose Liebe und Barmherzigkeit an mir haften zu haben. Was habe ich also zu verlieren? Gebe ich meinem Feind, meinem Nächsten das weiter. Dann blitzt das Reich Gottes hier auf Erden auf.

Wie Gott mir, so ich dir. Es fällt nicht immer leicht, einen Menschen mit Liebe und Wohlwollen anzusehen, der uns verletzt hat und gegenüber dem wir Abneigung empfinden. Das Gebot der Feindesliebe führt uns heraus aus unserer Komfortzone. Aber wo wir uns stolpernd und suchend auf diesen Weg begeben, entsteht Raum für die bedingungslose Liebe Gottes. Und diese Liebe haben unsere Feinde, unsere Nächsten genauso nötig wie wir.

Ronja Gerber